Hoffnung trotz Manipulation

Im Osten der Türkei hat die prokurdische DEM-Partei jüngst bedeutende Wahlsiege verzeichnen können, die aber auch von Protesten begleitet wurden. Wie bei den letztjährigen türkischen Präsidentschaftswahlen (siehe P.S. vom 26.05.2023) hat die Organisation «Brückenschlag Zürich – Amed/Diyarbakır» Wahlbeobachter:innen in den Südosten der Türkei entsandt. Darunter Yves Henz, auch Gemeinderat für die Jungen Grünen in Zürich. Sergio Scagliola hat ihn einige Tage nach den Kommunalwahlen zum Gespräch getroffen.

Die Kommunalwahlen in der Türkei waren von grosser Bedeutung für die Kurd:innen im Osten. Wieso?

Yves Henz: Die kurdische Bevölkerung und andere Minderheiten werden in der Türkei seit sehr langer Zeit unterdrückt. Zum Beispiel kann in der Schule kein Kurdisch gesprochen werden. Es wird nur Türkisch gelernt, obwohl die grossen Mehrheiten in diesen Regionen Kurdisch sprechen. Soweit zum Kontext der Versuche, das kurdische Sein auszulöschen. Dagegen stellt sich die DEM-Partei und die kurdische Freiheitsbewegung. Sie steht für die Vielfalt, für die Expression und die Rechte der Minderheiten ein – und geht über die demokratische Freiheit hinaus und hat weitergehende Ideen einer alternativen Gesellschaft, die mehr Gleichheit und weniger Armut beinhaltet.

Wie spielt die Wahlbeobachtung in dieses Thema hinein?

Wieso wir in der Türkei waren, sind die höchst unfairen Abläufe bei den Wahlen und Wahlergebnissen. Es wurden bereits mehrere Tausend Leute gefangen genommen, vor allem kurdische, immer politische Oppositionelle, die ohne einen Gerichtsprozess gehabt zu haben im Gefängnis sitzen. Sie sind zum Teil seit sechs oder sieben Jahren in Untersuchungshaft – wir reden hier auch von demokratisch gewählten Verteter:innen der Bevölkerung, zum Beispiel der gewählten Co-Bürgermeisterin von Diyarbakır/Amed. In der Zwischenzeit hat die regierende AKP Statthalter in den kurdischen Gebieten eingesetzt, gegen den Willen des Volkes. Dieses hat nämlich damals die HDP gewählt, die demokratische Partei der Völker, wie die DEM früher hiess. Aber deren gewählte Vertreter sitzen nun in den Gefängnissen. Bei der Wahl am letzten Wochenende wurde wiederum an sehr vielen Orten ein DEM-Wahlsieg erwartet, weil sie die breite Unterstützung der Bevölkerung geniesst. Aber: Man ging auch davon aus, dass auch dieses Mal auf Seiten des Erdogan-Regimes Wahlmanipulation versucht würde – was sich auch bestätigt hat.

Damit zum Wochenende: Was haben Sie gemacht? Und was ist Ihnen aufgefallen?

Wir sind zu den verschiedenen Wahllokalen in den Schulen gegangen, haben mit den Wahlverantwortlichen vor Ort gesprochen und auch den lokalen Parteivertretungen. Aufgefallen ist, dass im grossen Massstab angesetzt eine neue Manipulationstechnik angewendet wurde: Die Transaktion der Wähler:innen-Stimmen. Es wurden Tausende Soldaten neu in jenen Gebieten angemeldet, wo eine knappe Wahl erwartet wurde. Es gab Dörfer, die 600 Einwohner:innen hatten – aber 300 Soldaten kurzfristig angemeldet wurden. Mit diesen Stimmen wurde versucht, die Wahl in den Gemeinden zu kippen. Das haben wir auch beobachten können: Ein ganzer Bus voller Soldaten fährt im Konvoi vor dem Wahllokal auf, gehen zum Teil bewaffnet in die Lokale und geben dann ihre Stimmen ab. Was wir nicht bestätigen können, aber wofür wir Indizien gesehen haben, ist, dass die Soldaten ihre Stimmen an mehreren Orten abgegeben haben. Denn es war auffällig, dass die mit Soldaten vollgeladenen Transporter an mehreren Orten teils dieselben Nummernschilder hatten.

Sind deswegen Zehntausende türkische Soldaten in den Osten verschoben worden und nicht zur gewalttätigen Repression?

Direkte Repression gab es auch, aber diese Soldatentransfers konnten wir überall beobachten. Auch im Absurden: Wir konnten zum Beispiel einmal beobachten, dass in zwei kleinen Mehrfamilienhäusern 792 Personen angemeldet waren. Das sind ganz offensichtlich fremde Stimmen, die von anderen Orten in diese Gemeinden gebracht wurden. An einigen Orten hat der Plan des türkischen Staates auch funktioniert und in Gemeinden wurde die Wahl dadurch gekippt. 

Wurde der Delegation der Zugang zu den Wahllokalen verwehrt? 

Teils. Viele konnten die Wahllokale nicht betreten, einige schon. Wir sind zum Beispiel auch eine Stunde festgehalten worden, bis die Polizei dann schliesslich alle IDs kontrolliert und fotografiert hatte. Eine italienische Journalistin wurde hingegen direkt bei der Einreise wieder zur Rückkehr gezwungen – was in unserer Schweizer Delegation nicht geschehen ist. 

Ein paar Städte weiter liegt die Stadt Van, die von Protesten erschüttert wurde. Grund dafür war, dass der gewählte prokurdische Kandidat direkt nach seiner Wahl davon ausgeschlossen wurde. Nach zwei Protesttagen wurde er schliesslich doch im Amt genommen. Hat man davon etwas gespürt?

Es zeigt sich einfach, dass der türkische Staat – und die AKP, die den Staat anführt – eigentlich alles versucht, um die kurdische Selbstverwaltung zu verhindern. Einerseits vor der Wahl durch die Verschiebung von Soldaten und Festnahmen und andererseits auch während der Wahl durch Sabotage und Einschüchterung sowohl der Wähler:innen als auch der Kandidat:innen. Oder wiederum vor der Wahl durch den Aufbau von Milizen in Dörfern – die verschiedene Ursprünge haben: Zum Beispiel die sogenannten ‹Dorfschützer›, bewaffnete paramilitärische Strukturen. Das Ganze ist ein Versuch, die kurdische Selbstverwaltung zu verzögern. Wir werden im nächsten halben Jahr genau hinschauen müssen, sodass nicht nochmals dasselbe passiert, wie es in den letzten Jahren der Fall war und Statthalter eingesetzt werden.

Wie war die Stimmung Ihnen gegenüber?

Abgesehen von den Sicherheitskräften waren alle sehr freundlich. Aus der Bevölkerung kam uns sehr wenig Feindschaft entgegen, noch eher Sorge. Als ich zum Beispiel in der Gemeinde Eğil war, riet uns die Parteivertretung der DEM aus Angst stark davor ab, in bestimmte Gemeinden zu gehen. Genauer in sogenannte Dorfschützerdörfer, wo der türkische Staat eine Art paramilitärische Miliz aufgebaut hat. Das haben wir dann auch als zu heikel empfunden, um uns ein Bild vor Ort zu machen.  

Die DEM ist in Diyarbakır und auch sonst vielerorts im Südosten als Wahlsiegerin hervorgegangen. Was heisst das für die kurdischen Gebiete auf türkischem Staatsgebiet?

Zunächst ist der Wahlsieg als eine grosse Freude und eine ebenso grosse Erleichterung in den Orten, die ich besucht habe, wahrzunehmen. Es gab spontane Feste in der Stadt, die Leute tanzen in den Strassen. Man freut sich darüber, dass es jetzt vielleicht die Möglichkeit geben kann, sich selbst zu verwalten – zumindest teilweise. Es ist somit auch ein Zeichen der Hoffnung für die Bevölkerung, dass man trotz aller Manipulation und Repression gewinnen konnte. 

Und das wurde auch nicht durch die Einschüchterungsversuche seitens Regierung und den transferierten Soldaten getrübt?

Man ist sich vor Ort sicher sehr bewusst, dass man ein Risiko eingeht. Das weiss man vor Ort allzu gut, weil man sich an die Verhaftungen bei den letzten Wahlen erinnert. Dass diese Angst durchaus vorhanden war, zeigte sich dann zum Beispiel darüber, dass viele Witze gemacht wurden, die dann eben doch halb ernst waren: «Ich habe keine Angst, ihr könnt mir dann Postkarten schicken, wenn ich im Gefängnis bin», wurde mit zum Beispiel gesagt. Aber auch trotz des Bewusstseins über die eigene Situation ist die Übermacht der Regierung ‹nur› militärischer Natur, so zwar sehr spürbar, aber die Macht der Bevölkerung und dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter der DEM steht, das hat eine Art Gegenmacht ausgelöst für die Bevölkerung. 

Früher hiess die DEM HDP, dann Yeşil Sol. Jetzt tritt sie wieder unter einem neuen Namen an. Wieso?

Man muss sich die HDP als Bündnispartei aus vielen kleinen Parteien und Organisationen vorstellen. Von Umweltparteien über Parteien, die sich für soziale Fragen einsetzen, bis hin zu LGBTQ+-Organisationen gehen hier sehr viele kleine Parteien ein Bündnis ein. Gegen die HDP wurde vor der Präsidentschaftswahl ein Verbotsverfahren eingeleitet. Deshalb brauchte man schnell eine Partei, um überhaupt antreten zu können. Die Yeşil Sol war innerhalb des Bündnisses eine kleine Partei, die sich für Umweltpolitik einsetzte – und sie war bereits zur Wahl angemeldet. Weil man keine Zeit hatte, eine neue Partei zu gründen. Jetzt hatte man diese Zeit aber und man wollte zurück zum Gedanken der grossen Bündnispartei – Yeşil Sol hingegen hatte durch die neu gewonnene Grösse Mühe, ihre eigene Arbeit weiterzuführen. Man wollte aber, dass sie sich wieder um ihre eigene wichtige Arbeit kümmern kann – um die Umweltthemen. Die DEM ist also als neue Bündnispartei zu verstehen, die die vielen kleinen Parteien unter sich zusammenspannt. 

Erfährt die DEM auch Unterstützung anderer Oppositionsparteien? Zum Beispiel von der CHP, der sozialliberalen Partei?

Wir hatten eher den Eindruck, dass die DEM ein wenig auf sich allein gestellt ist. Generell war die Opposition an diesen Wahlen eher gespalten. Das hat damit zu tun, dass die HDP das letzte Mal bedingungslos den Präsidentschaftskandidaten der CHP unterstützt hat. Dieser hat in seinem Präsidentschaftswahlkampf, gerade im zweiten Teil, wieder krude, feindliche und rassistische Töne angeschlagen, was natürlich nicht gut aufgenommen wurde.

Vor der Wahl hat man vermehrt von einer hoffnungsvollen Stimmung, besonders in kurdischen Gebieten, gelesen. Dass sich mit der Wahl mal etwas ändert. Wie haben Sie das erfahren?

Die Hoffnung wurde durch das Wahlresultat unterstrichen. Das haben wir auch in den Communiqués der DEM und den kleineren kurdischem Organisationen gesehen, wo zu lesen war, dass diese Wahl ein grosser Schritt nach vorne ist. Die Proteste in Van, die dazu geführt haben, dass eine gekippte Wahl wieder zurückgefordert werden konnte, wurde zudem als kleine Revolution beschrieben, eine kleine Revolution in Richtung Selbstbestimmung. Dennoch wird die Befürchtung bleiben, dass das Regime die Wahl nicht akzeptiert und wieder Statthalter einsetzt. Man darf auch nicht vergessen, dass die Angst das dominierende Element war innerhalb der letzten Jahre. Die Repression ist real. Tausende sind in den Gefängnissen. 

Zurück zu den Zuständen ausserhalb der Städte. Konnte die Delegation einen Eindruck gewinnen, wie es in den ländlichen Gebieten zu und her gegangen ist?

Ein Teil der Gruppe ist in ländliche Gebiete – ich selbst war auch nicht in Diyarbakır, sondern in kleineren Gemeinden. Grundsätzlich kann man sagen, dass der grösste Betrug bei den Wahlen in den kleinen, ländlichen Gemeinden stattfindet. Denn dort schaut auch die offizielle Wahlbeobachtungsdelegation des Europarats nicht hin, dort gibt es einfach keine Öffentlichkeit. In einer kleinen Gemeinde unweit derer, wo ich mich befunden habe, wurden auch zwei DEM-Mitglieder erschossen. Und den ganzen Tag über wusste man auch nicht wirklich, was dort passiert, weil das Militär das ganze Dorf abgeriegelt und keine Journalist:innen hineingelassen hat. Jetzt weiss man: Zwei Leute wurden mit Schusswaffen umgebracht. Es ist schrecklich. Die Situation auf dem Land ist besonders prekär, sodass wir zum Teil nicht in diese Gebiete konnten, weil es einfach viel zu gefährlich war.  

Welche Rolle haben die Wahlbeobachtungsdelegationen somit gespielt? Jene, dass diese Zustände in diesen Dörfern nicht überall reproduziert werden konnten?

Die Wahlbeobachtung hat definitiv einen Einfluss. Die riesige Diskrepanz zwischen den Ereignissen in den grösseren und den kleineren Gemeinden zeigt, dass das öffentliche, mediale, auch ausländische Auge, das auch von uns repräsentiert wird, einen Unterschied ausmacht. Dort, wo das Regime weiss, dass niemand hinschaut, kann es alles tun. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit nicht. Aber natürlich geschehen die Einschüchterungen, die illegitimen Machenschaften dennoch auf dem Land. Der türkische Staat hat wohl einen gewissen Respekt vor diesen internationalen Delegationen, weil sie die gesammelte Information natürlich auch wieder in ihre Heimatländer tragen, in denen ein schlechter Eindruck von der Türkei erweckt würde, wenn das Regime gegen die Wahlbeobachter:innen vorgeht. 

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