«Die Bevölkerung muss Biodiversität erleben können»

Dieser Tage wurde am Winterthurer Stadtrand ein über 50 Hektaren grosses sogenanntes Biodiversitätsgebiet eingerichtet. «Wir wollen damit ermöglichen, dass die Bevölkerung die Artenvielfalt auch erleben kann und so für deren Erhalten sensibilisiert wird», hält Beat Kunz, Leiter der für das Gebiet zuständigen Verwaltungseinheit «Stadtgrün», fest. Matthias Erzinger hat sich mit ihm über das neue Förderungsgebiet und generell Biodiversität im Siedlungsraum unterhalten.

Herr Kunz, was heisst das: «Fördergebiet für Biodiversität»? Entsteht da jetzt ein Urwald, eine Art Nationalpark, der nicht betreten werden darf, oder wird das Gebiet ein neuer Naturhotspot, um seltene Arten zu beobachten?

Beat Kunz: Es ist ganz klar der Naturhotspot. Das Gebiet ist jetzt bereits sehr spannend von der Topographie her und welche Arten da zu finden sind. Mit dem Projekt, das wir jetzt durchführen, wird das Gebiet zusätzlich aufgewertet. Die Idee ist, dass ein grösserer zusammenhängender Waldkomplex entsteht, mit unterschiedlichen Waldstandorten, wo verschiedenste Biotope betrachtet und seltene Arten beobachtet werden können.

Es geht also darum, mehr Menschen dahin zu bringen, welche da Natur erleben können?

Das Verständnis von Naturschutz in einer Grossstadt von Stadtgrün Winterthur ist, dass wir der Bevölkerung durch das direkte Erlebnis von Natur auch zeigen, was ein naturverträgliches Verhalten bringt. Das Biodiversitätsgebiet Totentäli ermöglicht, gelenkt mit Stegen und Wegen, dass man Natur beobachten kann, ohne sie zu (zer-)stören. Wenn wir einfach so quer durch Wälder oder Naturschutzgebiete hindurchlaufen, ist das natürlich grundsätzlich ein Konflikt mit dem Naturschutz. Jetzt kann die Bevölkerung dort die Natur beobachten, sie lernt die Natur zu verstehen und bekommt ein besseres Verhältnis zum Schutz der Natur.

Warum gerade dieses «Totentäli»?

Wir gehen davon aus, dass das Totentäli eines der Gebiete mit dem grössten Potenzial auf Stadtgebiet Winterthur ist. Es ist ein eiszeitlicher Flusslauf, es hat nördlich ausgerichtete Talflanken, es hat südlich ausgerichtete Lagen, es hat magere Kuppen, nährstoffreiche Mulden. Damit haben wir von der Lage her schon eine hohe Biodiversität. Wenn wir da jetzt gezielt noch fördern, haben wir eines der artenreichsten Gebiete in der Umgebung.

Welche speziellen Tiere und Pflanzen können denn nun beobachtet werden?

Es hat einerseits verschiedene Orchideenarten, oder speziell ist das Vorkommen der Geburtshelferkröte, auch Glögglifrosch genannt. Es ist eines der Gebiete, in denen vor etwa 50 Jahren eine gezielte Amphibienförderung gestartet wurde.

Ist es nicht so, dass das Gebiet sich einfach nicht für den kommerziellen Forstbetrieb eignet und es daher leicht fällt, dort darauf zu verzichten?

Das Gegenteil ist der Fall: Das Gebiet ist sehr divers und grundsätzlich gut geeignet für kommerzielle Waldnutzung. Allerdings stimmt es, dass an der Nordflanke im sogenannten Schuppentännli schon längere Zeit auf die Nutzung des Waldes verzichtet wurde. So ist dort ein Waldreservat entstanden, das nun mit weiteren, an sich nutzbaren Flächen zum Biodiversitätsfördergebiet zusammengelegt wurde. Aus einem Flickenteppich ist so nun ein zusammenhängendes Gebiet von über 50 Hektaren entstanden. Wir haben sehr viel Wald um Winterthur, und der soll auch genutzt werden, aber es braucht auch Flächen wie das neugeschaffene Biodiversitätsgebiet, in denen auf eine Nutzung verzichtet wird.

Nun ist ein Vorzeigeprojekt entstanden. Wie sieht es sonst mit der Biodiversitätsförderung bei Stadtgrün aus? Zum Beispiel im eigentlichen Siedlungsraum?

Biodiversitätsförderung ist schon länger ein Schwerpunkt unserer Tätigkeit. Wir sind daran, an verschiedenen Orten kleine, isolierte Gebiete zusammenzufügen, so zum Beispiel auch im Linsental entlang der Töss zwischen Sennhof und Winterthur-Töss, wo wir Gebiete mit Naturvorrang ausgeschieden haben, welche zum Beispiel für die Erholungssuchenden gesperrt sind.

Was wir in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus gerückt haben, ist die Biodiversitätsförderung auf dem eigentlichen Stadtgebiet. Wir haben dazu ein internes Programm «Stadtwildnis» lanciert. Schon längere Zeit beobachten wir, dass in Landwirtschaftsgebieten die Biodiversität sinkt, während sie in den Siedlungsräumen zunimmt. Dies auch daher, weil gerade im Siedlungsraum auch Ruderalflächen und öffentliche Flächen gezielt für die Artenförderung eingesetzt werden. Hier liegt noch ein grosses Potenzial, insbesondere bei den privaten Flächen.

 

Zur Person

Beat Kunz ist 61 und leitet sei acht Jahren den Bereich Stadtgrün innerhalb des Departementes Technische Betriebe. Zuvor leitete er die Forstbetriebe der Stadt Winterthur. Er ist Vorstandsmitglied der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft Winterthur NGW.

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