Auf der Seite der Menschlichkeit

Am 8. März lud die Ständeratspräsidentin Eva Herzog Frauen aus Politik, Wirtschaft und Kultur zu einem Anlass ins Bundeshaus ein. Der Anlass endete mit einer nachdenklichen Note, mit einem Gespräch mit Mirjana Spoljaric Egger, der ersten weibliche Präsidentin des Internationalen Roten Kreuzes. Sie sehe die momentane Entwicklung und Zunahme der Krisen mit Besorgnis sagte sie. Dies  hat sich auch anderswo schon dargelegt, beispielsweise in einer sehenswerten Folge von «Sternstunde Philosophie». Das Problem sei nicht nur die Zunahme der Konflikte, sondern die Veränderung unseres Umgangs damit. Mirjana Spoljaric beobachtet mit Sorge, dass Autokratien zunehmen, die Sehnsucht nach starken Männern um sich greift. Und auch eine Politik, die nur in den Kategorien Freund und Feind, absolutem Sieg oder Niederlage funktioniert. Damit einher kommt auch die Entmenschlichung des Gegners, der in vielen Konflikten sichtbar wird, also der zunehmenden Unfähigkeit, das menschliche Leben als gleichwertig und unbedingt schützenswert zu betrachten. Die vier Genfer Konventionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurden, bilden den Kern des humanitären Völkerrechts. Darin sind Regeln zum Umgang mit verwundeten und verletzten Kriegsteilnehmern sowie der Behandlung von Kriegsgefangen dargelegt. Zudem ein Schutz von Zivilpersonen im bewaffneten Konflikt. Die Genfer Konventionen wurde von allen Staaten der Welt ratifiziert und sind auch für alle verbindlich. Sie sind auch aus dem Willen entstanden, dass sich die Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht mehr wiederholen dürfen. 

Mittlerweile kann man feststellen, dass das internationale Recht sowie die internationalen Gremien wieder an Legitimität verlieren. Das ist keine neue Entwicklung, die UNO und die Organisationen der UNO wurden auch in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, vermutlich auch immer wieder zu Recht. Dennoch bleiben sie ohne Alternative. Denn es ist nur das internationale Regelwerk und die internationalen Organisationen, die den Grundsatz wahren können, die Menschlichkeit zu verteidigen. Die Alternativlosigkeit zu propagieren, wie es einst Maggie Thatcher mit dem Kapitalismus getan hat, ist natürlich nicht sonderlich attraktiv. Das Bonmot von Joe Biden ist da schon passender. Man solle ihn nicht mit dem Allmächtigen vergleichen, meint er jeweils an seine innerparteilichen Kritiker, sondern mit der Alternative. Was innenpolitisch ein Totschlagargument ist, ist im Umgang mit internationalen Konflikten treffender: Weder internationales Recht noch internationale Organisationen sind perfekt. Die Alternative, die Regellosigkeit hingegen, wäre sicher viel schlimmer.

Spoljaric analysiert auch, dass heute Krieg wieder eher als legitimes Mittel der Auseinandersetzung angeschaut wird. Der preussische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz hat in einem seiner berühmtesten Sätze geschrieben, dass Krieg eine «blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» sei. Nun ist Clausewitz missverstanden, wenn man ihn quasi als Kriegstreiber einordnet, denn Clausewitz ging es durchaus um ein regelbasiertes Verständnis des Krieges, also eines, in dem die Politik die Kriegsführung bestimmt. Der Unterschied im modernen Völkerrecht ist, dass wir heute Krieg nicht mehr als legitimes Mittel sehen, das mit Regeln zu zivilisieren ist, sondern den Krieg grundsätzlich ablehnen. Kriege sind völkerrechtlich grundsätzlich verboten, und dieses Verbot ist als allgemeines Gewaltverbot in der Charta der Vereinten Nationen festgehalten. Selbstverständlich sind trotzdem immer wieder Kriege geführt worden. Aber Krieg ist noch nicht zum normalen Mittel der Politik geworden. 

Die von Spoljaric mit Sorge betrachteten Entwicklungen sind nicht nur in den schlimmen Konflikten wie im Sudan, im Gaza oder in der Ukraine – oder in noch wesentlich mehr von der westlichen Öffentlichkeit kaum verfolgten humanitären Katastrophen – zu beobachten, sondern auch sonst. Der neu gewählte Präsident der SVP will die Flüchtlingskonvention kündigen, aber er ist dabei weitaus nicht der erste. Aber die SVP ist hier nicht allein, die Entmenschlichung zeigt sich auch in den migrationspolitischen Diskussionen in praktisch allen Ländern.  Es zeigt sich aber auch im kleineren und vermeintlich harmloseren Rahmen. Nämlich dass in Diskussionen über die vorher geschilderten Konflikte – insbesondere natürlich in den ‹sozialen› Medien – auch sehr kluge und durchaus rationale Leute aus allen politischen Lagern jegliche Empathie mit der anderen Seite vermissen lassen. Als wären es nicht Kriege, sondern ein Fussballmatch, wo man bedingungslos eine Seite beziehen müsse. 

Alt-Bundesrat Berset sprach im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt von einem «Kriegsrausch», den viele übermannt habe. Die Aussage wurde scharf kritisiert – auch von mir. Ich habe damals wie heute eine andere Position vertreten, was die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial für die Ukraine angeht. Ich war nie eine Pazifistin, weil ich denke, dass es Situationen gibt, wo einer organisierten militärischen Aggression nur ein organisierter militärischer Widerstand entgegengesetzt werden kann. Dennoch kann ich mittlerweile dem Unbehagen gegen den «Kriegsrausch» durchaus etwas  Verständnis entgegenbringen. Denn eine Positionsnahme darf nicht dazu führen, dass Diplomatie, Konflikt- und Friedensförderung als naiv und unnötig belächelt werden. 

Laut einer Studie der ETH zur Sicherheit sehen Schweizer:innen die Weltlage so pessimistisch wie schon lange nicht mehr, wie der ‹Tages-Anzeiger› berichtet. 82 Prozent von ihnen sehen die Zukunft eher oder sehr negativ und erreichen damit den höchsten Wert, seit die Studie vor neun Jahren das erste Mal durchgeführt wurde. Auch meine Einschätzung ist kaum positiver und sie unterscheidet sich von den Befragten auch nicht, was die Einschätzung der persönlichen Sicherheit anbelangt: 92 Prozent fühlen sich in der Schweiz «sehr sicher» oder «eher sicher». 

Eine bessere und sichere Zukunft kann es nur in einer regelbasierten Weltordnung geben. Mirjana Spoljaric Egger hat vor einem Jahr in einem Essay in der New York Times die Neutralität des IKRK verteidigt. Diese Neutralität werde oft falsch verstanden: Sie sei keine Gleichgültigkeit. Die Unparteilichkeit sei aber die Voraussetzung, bei beiden Konfliktparteien auf die Einhaltung des internationalen Rechts und auf die humanitären Bedürfnisse pochen zu können. Die humanitäre Neutralität bedeute, dass wenn die Welt Seite beziehen, das IKRK die Seite der Menschlichkeit beziehen müsse. Daran sollten wir auch in der Schweiz denken, wenn wir über unsere Neutralität sprechen. Wenn wir die Neutralität wollen, sollte es jene des internationalen Rechts und der Konfliktlösung sein und nicht jene des Geldsacks. Denn nur so könnten wir etwas für eine bessere Zukunft beitragen. 

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